Bruce Liu | News | Booklettext: Bruce Liu "Tchaikovsky: The Seasons" - 1.11.2024 (VÖ) (DE/EN)

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Booklettext: Bruce Liu “Tchaikovsky: The Seasons” – 1.11.2024 (VÖ) (DE/EN)

30.08.2024
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Eine musikalische Atempause 
BRUCE LIU UND TSCHAIKOWSKY
Nicht jedem aufstrebenden jungen Künstler kommt es vermutlich in den Sinn, ausgerechnet Tschaikowskys Werke für Klavier solo einzuspielen. Doch auf Bruce Liu übt die intime, zutiefst poetische Sprache des russischen Komponisten einen unwiderstehlichen Reiz aus – und sie ermöglichte ihm eine musikalische Atempause.
»Für mich sind diese Aufnahmen ein Augenblick, in dem ich meinen Gefühlen nachgehen kann«, erklärt Liu. Seit er den Ersten Preis des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2021 gewann, hat sich sein Leben komplett verändert: »Vorher war ich noch Student, dann folgte ein ganzes Jahr, in dem ich ständig auf Tournee und kaum mehr zu Hause war. Die ›Behaglichkeit‹ und ›Intimität‹ dieser Werke Tschaikowskys gibt mir Gelegenheit, Abstand zu gewinnen und ein wenig nachzudenken, denn hier geht es viel um persönliche Erinnerungen.«
Die Jahreszeiten sind Tschaikowskys bekanntestes Werk für Soloklavier: Sie bestehen aus zwölf Vignetten (präziser wäre also der Titel »Die Monate«) und sind mit Schumanns Klavierzyklen wie den Kinderszenen oder den Waldszenen vergleichbar. Der Zyklus entstand als Auftragswerk für die Musikzeitschrift Nuvellist: Im Jahr 1876 wurde allmonatlich eines der zwölf Stücke veröffentlicht, jeweils garniert mit einigen Zeilen aus einem dazu passenden Gedicht.
»Tschaikowsky ist in erster Linie für seine Ballettmusiken, seine Symphonien und seinen eher extravaganten und dramatischen Stil bekannt«, sagt Liu. »Seine Werke für Soloklavier sind dagegen meist Salon- oder Charakterstücke, die für ein kleines Publikum bestimmt waren. Als Auftragswerk für eine Zeitschrift sind Die Jahreszeiten so konzipiert, dass sie auch von Amateurpianisten gespielt werden können. Aber ich habe das Gefühl, dass Tschaikowsky sie eigentlich für sich selbst geschrieben hat. In gewisser Weise passen sie daher zu meiner eigenen Situation.«
Die Musik sprudelt dabei geradezu vor Emotionen über: »Die Palette reicht von tief melancholischen Melodien bis zu aufregenden Klangreisen, es wirkt fast wie ein Tagebuch. Die zwölf Stücke beschreiben die Landschaft Russlands und seine volkstümliche Kultur. Dabei sehe ich durchaus Ähnlichkeiten zwischen diesem Land und Kanada, wo ich lebe: Beide Länder sind riesig, beide können sehr kalt sein, und in der Weite dieser Räume kann ein Gefühl von Einsamkeit entstehen. Die Musik enthält schwermütige Momente, doch Tschaikowsky beschreibt auch einige Familienfeiern, vor allem Weihnachten. Es ist, als erlebe man im Laufe eines Jahres eine komplette Geschichte. Da wir das alle tun, scheint mir das Werk leicht zugänglich.« Die Aufnahmen in Berlin fanden zudem mitten im Winter statt: »Es schneite, und das sorgte für eine ganz besondere Stimmung!«
Der erste Satz, »Januar: Am Kamin«, beschreibt den Jahresbeginn: »Draußen ist es sehr kalt, die Stimmung ist ein wenig schwermütig, es ist eine Zeit des Nachdenkens und der Meditation.« Danach folgt »Februar«, ein für die Karnevalszeit bestimmter Tanz, der »recht volkstümlich« gehalten ist, so Liu. Der Satz »März« (mit dem Untertitel »Lied der Lerche«) »ist schwierig zu spielen, denn Tschaikowsky präsentiert hier eine sehr klassische, aber von tief romantischem Geist erfüllte Struktur und eine üppig mit Ornamenten ausgeschmückte Melodielinie. Es ist nicht ganz einfach, diese unterschiedlichen Aspekte zu kombinieren und dabei nicht sentimental zu werden.« Das zarte »Schneeglöckchen« (April) folgt wie die meisten anderen Stücke einer A-B-A-Form: »Wir beginnen und enden mit der gleichen Situation, in der Mitte steht eine kontrastierende Episode.« Der »Mai« ist mit »Weiße Nächte« betitelt – »es gibt keine Dunkelheit, alles ist voller Hoffnung!«
»Juni: Barcarole« ist eines von Lius Lieblingsstücken: »Ich habe es zum ersten Mal in einem Film gehört, als ich etwa zehn Jahre alt war. Es war interessant, wie es dort eingesetzt wurde – es kann sehr ›szenisch‹ wirken. Tschaikowsky wurde von der Programmmusik von Liszt und Berlioz beeinflusst, und in all diesen Stücken kann man eine unmittelbare visuelle Inspiration erleben.«
»Bis hier«, fährt Liu fort, »waren die meisten Stücke recht schwermütig. Mit ›Juli: Schnitterlied‹ erklingt nun plötzlich ein sehr offenes, tänzerisches Stück. Das gilt ebenso für ›August: Erntezeit‹, in dem die Ernte eingeholt und ihre Fülle gefeiert wird. In ›September: Die Jagd‹ hört man die Hörner übers Land schallen. Das ›Herbstlied‹ (Oktober) ist fast so bekannt wie die ›Barcarole‹ vom Juni: Eine bezaubernde, zu Tränen rührende Melodie enthüllt uns hier die tiefsten Gefühle des Komponisten. In ›Auf der Troika‹ (November) ist die Stimmung eher beschwingt; der Titel bezeichnet einen von drei Pferden gezogenen Schlitten. Das letzte Stück, ›Dezember‹, ist ein Walzer – die Familie trifft sich zum Weihnachtsfest.«
Die größte Herausforderung beim Vortrag der Jahreszeiten liegt nicht in der Spieltechnik, sagt Liu, sondern auf einer tieferen Ebene. »Da es hier vergleichsweise wenige Noten gibt, muss man sich um jede einzelne kümmern. Jede Note muss wirklich sprechen. Die Frage ist sozusagen, wie man diese Noten mit Perlen umsäumt: Alles muss sich dem Geist des Stücks unterordnen, aber gleichzeitig muss man sich um viele Details kümmern. Es ist der Kampf zwischen Einfachheit und Komplexität.«
Die Romanze op. 5 ist vielleicht die perfekte Tschaikowsky-Zugabe, besonders nach den Jahreszeiten, mit denen das Stück viel gemeinsam hat. »Dieses Stück kommt meinem Empfinden der romantisch-melancholischen Seele des Komponisten vielleicht am nächsten«, sagt Liu. »Diese kurzen, berührenden Werke zeigen das innerste Wesen Tschaikowskys. Er hat hier unglaublich viel zu sagen, doch zu seiner Zeit verstand das keiner.«
Neben der Romanze enthält das vorliegende Album eine Auswahl von Tschaikowskys Salon-Miniaturen – sie illustrieren die Fülle an Emotionen, die der Komponist in diesem Kleinformat ausdrücken konnte. »Ich wollte die Romanze mit der ganzen Stilvielfalt Tschaikowskys ausschmücken«, sagt Liu.
Den stärksten Einfluss auf das Klavierwerk des Komponisten hatte vermutlich Chopin: »Das Nocturne ist ein hervorragendes Beispiel dafür«, sagt Liu – und dieser Einfluss zeigt sich natürlich bereits im Titel des Stücks Un poco di Chopin, das an eine Mazurka erinnert. Das Wiegenlied ist dem breiten Publikum in einer hoch gerühmten Transkription von Rachmaninow bekannt geworden, »aber ich habe mich entschieden, das Original zu spielen, das man fast nie hört«. Liu hat jedoch eine Transkription aufgenommen – allerdings nicht von Rachmaninow, sondern von Earl Wild. »Ich habe alle seine Transkriptionen durchgesehen. Ich liebe sie. Dabei stach seine Fassung des ›Tanzes der vier Schwäne‹ aus Schwanensee heraus. Sie macht wirklich Spaß!«
Zu der Valse sentimentale sagt Liu: »In diesem Stück erkenne ich den Vortragsstil des ›Goldenen Zeitalters‹, der durch Pianisten wie Shura Cherkassky, Stanislaw Neuhaus und Alfred Cortot verkörpert wird und den ich sehr bewundere. Man betont dabei den Phrasenanfang und imitiert den Stil des Belcanto, was absolut sinnvoll ist. Die Stärke des Klaviers ist seine perkussive Seite, die sehr dynamische Effekte ermöglicht. Schwächer ist es jedoch im Verbinden von Emotionen, denn die Töne verklingen schnell und der Anschlag kann manchmal hart klingen.« Der Aufnahmeprozess ist damit letztlich ein Teil von Lius Suche nach seinem eigenen Klang. »Es ist vielleicht nicht gerade meine Mission, das Klavier zum Singen zu bringen«, sagt er, »aber auf jeden Fall arbeite ich daran!«
Jessica Duchen
 
 
A Moment to Breathe 
BRUCE LIU AND TCHAIKOVSKY
Perhaps not every rising-star performer would choose to record Tchaikovsky’s solo piano music. For Bruce Liu, however, the Russian composer’s intimate and profoundly poetic language is not only an irresistible attraction, but also an opportunity to take some musical breathing space.
“For me, this is a moment to explore some personal emotion,” Liu says. Since he won the International Chopin Competition in 2021, his life has changed completely: “I’ve gone from being a student to not having much time at home for a whole year, being constantly on tour. I find the ‘cosiness’ and ‘intimacy’ in this music give me a chance to stand back and reflect, because it is so much about private memories.”
The Seasons is the best known of Tchaikovsky’s solo piano works: a series of twelve vignettes – so a more accurate title might be The Months – comparable to such Schumann cycles as Kinderszenen or Waldszenen. It was a commission from the music journal Nuvellist, which printed one piece per month throughout 1876, and each is prefaced by a few lines from a pertinent poem.
“Tchaikovsky is of course famous for ballet music, for his symphonies and for a rather flamboyant and dramatic style,” Liu says, “but his solo piano works are mostly ‘character’ salon pieces for small audiences. The Seasons was written to be playable by amateur pianists, which was appropriate for a commission from a magazine – but also I feel he’s really writing this for himself. Therefore in some ways it fits my own situation.”
The music overflows with myriad emotions: “It ranges from very melancholy melodies to some exciting journeys, almost like a diary. The twelve pieces describe the landscape of Russia and its folkloric culture. I feel there are similarities between that country and Canada, where I live: both are huge, both can be very cold, and we can sometimes have a feeling of loneliness in these vast spaces. In the music there are melancholic moments, but also Tchaikovsky depicts some celebratory gatherings, especially Christmas. It’s like going through your whole story in a year – and, because we all do this, I think it is very approachable.” Moreover, Liu made the recording in Berlin in the middle of winter: “It was snowing, which maybe created some ‘special atmosphere’ for this work!”
The first movement, “January: At the Fireside”, depicts the first month of the year – “it’s very cold outside, and slightly melancholy. It’s really a moment of reflection and meditation.” February is a dance for the carnival season, “quite folkloric in style”. March is subtitled “Song of the Lark” – “this one is tricky to perform, because Tchaikovsky presents a very classical structure, but a very romantic soul, with a highly ornamented melodic line. Combining these qualities is a challenge because it could easily become sentimental.” April’s delicate “Snowdrop”, like most of its companion pieces, is in A–B–A form: “We start and end in the same situation, with a contrasting episode in the middle.” May is called “White Nights” – “when there is no darkness and life is full of hope!”
“June: Barcarolle” is one of Liu’s favourites: “I first heard it in a film when I was about ten, and its use there was interesting because this piece can feel very ‘scenic’. Tchaikovsky was influenced by the programme music of Liszt and Berlioz, and in all these pieces you can take some direct visual inspiration.”
“Up to this point,” he continues, “most of the pieces have been melancholy, but suddenly in ‘July: The Reaper’s Song’, we have a piece that is very open and dancing. That’s also true of ‘August: The Harvest’, where everyone is gathering the crops and celebrating their abundance. September is ‘The Hunt’ – you can hear the horns across the countryside. October’s ‘Autumn Song’ is almost as famous as June’s ‘Barcarolle’ and it brings us to the core sentiments of Tchaikovsky, with an enchanting melody that can move us to tears. The mood is more upbeat for November’s ‘Troika’ – the title refers to a sleigh drawn by three horses; and finally December is a waltz – a family gathering for Christmas”.
In all, the chief challenge of playing The Seasons is not technical, Liu says, but something rather deeper. “Because there are comparatively few notes, you have to care about every one of them. Each note must really speak. The question is how to surround these notes with pearls, in a certain sense: it has to meld into the general intention, while you are also taking care of so many details. It’s the struggle of simplicity and complexity.”
The Romance op. 5 is perhaps the perfect Tchaikovsky encore, especially after The Seasons, with which it has much in common. “It is perhaps the closest piece to my feelings about the composer’s romantic and melancholy soul,” says Liu. “It is the essence of the Tchaikovsky that we find in these short, touching works, where he has so much to say, but no one at the time could understand it.”
Alongside the Romance, this CD edition also includes a selection of Tchaikovsky’s stand-alone salon miniatures. They show something of the emotional range the composer was able to evoke within this format. “I wanted to embellish the Romance with the various styles Tchaikovsky could bring in,” Liu says.
Of all the influences on Tchaikovsky’s piano writing, Chopin’s was perhaps the strongest: “Here the Nocturne is an excellent example,” says Liu – and it’s evident of course in the very title of the mazurka-like Un poco di Chopin. The Lullaby, meanwhile, is well known in a celebrated transcription by Rachmaninoff – “but I decided to play the original, which is almost never heard”. He has, however, included one transcription, though not by Rachmaninoff, but by Earl Wild. “I went through all his transcriptions, which I love, and his version of the ‘Dance of the Four Swans’ from Swan Lake stood out. It’s such fun!”
As for the Valse sentimentale, Liu says: “In it, I find the style of playing that I admire so much from the ‘Golden Age’ period, from artists like Shura Cherkassky, Stanislav Neuhaus and Alfred Cortot, which always speaks. You put the emphasis on the beginning of the phrase, imitating the style of bel canto singing, which makes total sense. The advantage of the piano is its percussive side, with which we can create some very energetic effects, but its weaker side is the matter of connecting the emotions, because the sound does not naturally sustain and the attack can sometimes sound harsh.” In the end, the recording process is all part of Liu’s quest for his own sound. “Making the piano sing,” he says, “if not exactly my mission, is certainly something I am working on!”
Jessica Duchen

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