Bruce Liu | News | Booklettext: Bruce Liu "Waves" - 03.11.2023 (VÖ) (DE/EN)

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Booklettext: Bruce Liu “Waves” – 03.11.2023 (VÖ) (DE/EN)

15.08.2023
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SO VERÄNDERLICH WIE DAS MEER
 
Als Künstler, dessen Klavierspiel vor Fantasie nur so sprüht und den die Spannung von Life-Auftritten geradezu beflügelt, sah Bruce Liu sein erstes Studioalbum als neue Herausforderung. »Studioaufnahmen sind ein sehr kontrovers diskutiertes Thema: Viele Leute mögen das Setting im Studio nicht, andere wiederum blühen dort regelrecht auf. Ich denke aber, dass Aufnahmen eine Chance bieten, etwas anderes als bei einem Live-Auftritt zu machen. Im Studio kann man wirklich sein eigenes Puzzle zusammenbasteln. Man erschafft ein Kunstwerk, indem man alle Teile passend zusammenfügt – und dazu gehört insbesondere, einen spezifischen Klang zu erzeugen.«
Liu verbrachte deshalb viel Zeit mit der Suche nach einem unverkennbaren Klang für jeden auf diesem Album vertretenen Komponisten. »Rameaus Klang«, erklärt der Pianist, »klingt viel trockener, direkter und gewissermaßen ›federnder‹ als der von Ravel, der viel stimmungsvoller und nebelverhangener ist, während der von Alkan eine Mischung aus beiden darstellt. Michel Brandjes, der Klaviertechniker, hat einen großartigen Job gemacht. Wir haben vermutlich ebenso viel Zeit damit verbracht, die verschiedenen Klangbilder richtig hinzubekommen, wie ich für die eigentliche Aufnahme!«
Zunächst galt es jedoch, die Werke für das Album auszuwählen. Nach seinem Sieg beim Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb 2021 hatte Bruce Liu viel Chopin gespielt; mit diesem Album wendet er sich nun Rameau, Ravel und Alkan zu. Und seine Entscheidung, drei französische Komponisten aus drei aufeinanderfolgenden Jahrhunderten zu kombinieren, hat eine gewisse Logik. Außer dem leicht makabren Aspekt, dass alle in Lius Geburtsstadt Paris verstarben, verbindet die drei, dass sie der Klaviermusik einzigartige Impulse gegeben und sich gleichzeitig auf Programmmusik spezialisiert haben (die meisten hier eingespielten Werke tragen einen Titel, auch wenn sich dahinter bisweilen ernste musikalische Absichten verbergen, wie bei Alkans geradezu beängstigend virtuoser Etüde Le festin d’Ésope). »Meine Ausgansidee bestand darin«, erklärt Liu, »die Zeit vom Barock über die Spätromantik bis zum Impressionismus historisch zu erkunden. Damit gebe ich einen tieferen Einblick in die französische Musikgeschichte als üblich, denn das französische Barock wird von Pianisten oft vernachlässigt – meist denken wir nur an Bach und Scarlatti.«
Da Jean-Philippe Rameau seine Klavierwerke natürlich für Cembalo schrieb, müssen Pianisten ihre Vortragsart entsprechend anpassen. »Eine Möglichkeit bestünde darin, Cembalo zu lernen, aber das habe ich nicht getan«, erklärt Liu. »Ich habe jedoch Unterricht bei einigen Cembalisten genommen und mir viele Aufnahmen von Interpreten wie Wanda Landowska angehört. Das hat meine Art, Rameaus Stücke auf dem Klavier zu spielen, radikal verändert. Es ist eine echte Herausforderung, die Stimmführung klar wiederzugeben, wenn es keine Dynamikwechsel gibt! Auch wenn das Klavier zahlreiche technische Möglichkeiten zum Verändern der Dynamik bietet, kann man vom Cembalo lernen, insbesondere in Bezug auf das Timing für den Vortrag am Klavier.«
Die hier eingespielten Werke Rameaus sind sämtlich seinen Pièces de clavessin (1724, 1731) und Nouvelles suites de pièces de clavecin (ca. 1728) entnommen. In diesen Suiten wandte sich der Komponist häufig von traditionellen Tanzformen wie Sarabande und Gavotte ab und verfasste stattdessen überaus charmante, mit lustigen Namen betitelte kurze Sätze. Das lebhafte, das Picken einer Henne imitierende Stück La poule (Das Huhn) zum Beispiel war viele Jahre lang bei französischen Pianisten sehr beliebt – selbst im 19. Jahrhundert, als Cembali nahezu ausgestorben waren.
Die Werke von Charles-Valentin Alkan entführen uns in eine ganz besondere Welt – eine Verlockung für alle Pianisten, die die Herausforderung extremer Virtuosität lieben. Liu entdeckte Alkan noch während seines Musikstudiums und war fasziniert von einem Komponisten, der 20-minütige Etüden oder sogar längere, als »Symphonie« oder »Konzert« bezeichnete Werke verfasste, ohne dass ein Orchester in Sicht gewesen wäre. Alkans Etüde Le festin d‘Ésope (Äsops Fest) besteht aus 25 überaus virtuosen Variationen auf ein leicht stampfendes Thema. Die melancholische Barcarolle ist dagegen eine weit sanftere, wenn auch harmonisch sehr anspruchsvolle Komposition, die sich mit ihrer Schilderung eines auf dem Wasser schaukelnden Boots auf die Natur als Leitthema des Albums bezieht.
Ganz andere Herausforderungen an den Interpreten stellt ein weiteres Werk, das ebenfalls mit programmatischen Titeln versehen ist: Ravels fünfsätziger Klavierzyklus Miroirs (Spiegelbilder). Der vierte Satz, »Alborada del gracioso« (Morgenlied des Narren), ist schon lange Teil von Lius Repertoire. »Ich habe es schon oft gespielt. Mit diesem Stück fühlte ich mich auf Wettbewerben immer sehr sicher, ich konnte es stets bedenkenlos vortragen. Aber es ist etwas ganz anderes, den ganzen Zyklus zu spielen, und bei dieser Aufnahme konnte ich mich wirklich jedem Takt, jedem Detail, jedem Satz eingehend widmen und allem den letzten Schliff geben.«
Der Titel des Albums, Waves (Wellen), spielt nicht nur auf das Naturthema an, das sich durch sämtliche Stücke zieht (mit Vögeln, Motten, Booten auf dem Meer und sogar Glockenklang, der in der Landschaft widerhallt), sondern entspricht auch dem spontanen Charakter von Lius Vortragspraxis. »Das Meer verändert sich ständig, und ich spiele Musikwerke nie mit einem starren Konzept, sondern immer mit einem gewissen Maß an Improvisation. Auf der Bühne oder sogar im Studio kommen mir ständig neue Ideen, wie ich sie spielen sollte.«
James Jolly
 
 
AS CHANGEABLE AS THE SEA
 
For an artist whose music-making seethes with fantasy, palpably fuelled by the excitement of live performance, Bruce Liu approached his first studio album as a new challenge. “It’s a very controversial subject, because a lot of people don’t like the studio set-up, but then again some people really come alive in the studio. Personally, I think a recording offers a chance to do something different from your live performances. For me, it’s in a studio that you can really make your own puzzle. It’s like making a piece of art, putting everything together – and getting a very specific sound is a major part of it.”
A lot of time was spent finding a distinctive sound for each composer on the album. “There’s one sound for Rameau,” Liu explains, “which is much drier, more direct and ‘bouncy’ in a way, whereas the Ravel is much more moody and foggy, while the Alkan is a mix between the two. The piano technician, Michel Brandjes, did such a great job. We probably spent as much time getting the different sound pictures right as I did actually recording!”
But first came the selection of repertoire. Having played a lot of Chopin’s music since winning the 2021 International Frederyk Chopin Competition, he now turns to Rameau, Ravel and Alkan. And there’s a certain logic to his decision to juxtapose three French composers who were each active in consecutive centuries. Besides the slightly morbid aspect that they all died in Paris (the city where Liu himself was born), the composers all advanced keyboard music in unique ways, while also specializing in writing programmatic pieces (most of the works on the album have titles, even when that hides a serious intent, as with Alkan’s fearsomely challenging study Le festin d’Ésope). “The initial idea was to offer a historical approach,” he explains, “going from Baroque to Late-Romantic to Impressionist. And that’s actually a longer view of French musical history than we usually get, because the French Baroque is quite neglected by pianists – we tend to think only about Bach and Scarlatti.”
That said, Jean-Philippe Rameau’s keyboard music was of course written for harpsichord, requiring a pianist to take a slightly different approach. “I suppose one way would actually be to learn to play the harpsichord, but I didn’t do that! I did, though, have lessons with some harpsichord players, and listened to a lot of recordings by people like Wanda Landowska. That really altered my approach to playing Rameau on the piano, because when there’s no dynamic change and you still have to make the voicing sound, it’s quite a challenge! Even though you’re playing a piano with all the various mechanisms for changing dynamics and so on, you can learn from the harpsichord, especially about the timing of the interpretation that you can get from the piano perspective.”
The Rameau works all come from his Pièces de clavessin (1724, 1731) and Nouvelles suites de pièces de clavecin (ca. 1728), suites of short movements in which the composer often turned away from the traditional dance forms (sarabande, gavotte and so on), giving them instead witty titles that drew from him music of great charm. La poule (The Hen), for example, with its lively pecking character, has long been a favourite of French pianists, even in the nineteenth century, when harpsichords were all but extinct.
The pieces by Charles-Valentin Alkan take us into a special world, one cherished by pianists who relish a super-virtuoso challenge. Liu stumbled across the composer while still a student and was mesmerized by someone who could write 20-minute études, or even longer works called “symphony” or “concerto” without an orchestra in sight. Alkan’s study Le festin d’Ésope (Aesop’s Feast) takes a slightly galumphing theme and subjects it to twenty-five variations that really put a pianist’s virtuoso technique through its paces. The melancholy Barcarolle, however, is a much gentler creation – though harmonically quite daring – chiming with the album’s theme of natural phenomena, here a boat rocking on the water.
Another piece with programmatic titles, Ravel’s five-movement Miroirs (Mirrors) offers different challenges. Liu has a long history with the fourth movement, “Alborada del gracioso” (The Jester’s Morning Song). “I have played it a lot. It’s the competition piece that’s always felt safe to me, that I could play very confidently. But playing the whole set brings a completely different perspective – and in this recording I was really able to search every bar, every detail, every sentence, and to bring real refinement.”
The album’s title, Waves, alludes not only to the nature theme that runs throughout the programme (with birds, moths, boats on the ocean, even the sound of bells echoing in the landscape), but also to the sheer spontaneity of Liu’s music-making. “The sea is always changing, and my approach to the music I play is never fixed. I always feel there’s an element of improvisation in the way I approach music in general. Every time I play on stage, or even in the studio, I’m always changing my mind about the way to play.”
James Jolly
 

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